Mittwoch, 26. Juni 2013

S.

„Asseln haben 200 Millionen Jahre überlebt“, sagte S. Er drehte den Stein neben dem Hauseingang wieder um. „Hätte man damals 10 € auf 3% verzinst angelegt, man wäre heute die reichste Assel der Welt. Du könntest Bill Gates zum Geburtstag die Schweiz schenken.“

Wir hatten uns gut 10 Jahre nicht gesehen. Manchmal ist es dann, als sei einer nur mal kurz zur Tanke gewesen, um was zu trinken zu holen – eine Dose Leben.

An S. mag ich, dass seine Absichten, die stets kristallklar beginnen, immer zu unfassbaren Merkwürdigkeiten führen und ihn der Mut zum Wahnsinn trotzdem noch nie verlassen hat.
Einmal hatte er auf einem Flohmarkt ein mehrhundertseitiges – in einer reizvollen Geheimschrift abgefasstes – Manuskript erworben. 2 Jahre lang widersetzten sich die Zeichen jedem Entzifferungsversuch, und S. fühlte sich an die gleichfalls ungeknackte, 3700 Jahre alte, minoische Linearschrift-A erinnert. Dann lernte er zufällig auf einer Party eine Verwandte des Verfassers kennen, und es stellte sich heraus, dass es sich bei seinem Manuskript um kein verschlüsseltes Mysterium handelte, sondern um eine von einem analphabetischen Onkel erfundene Schrift.

Wir gingen durch eine Fußgängerzone, und auf den glänzenden Steinplatten lag eine Pfütze. An einem abgestellten Fahrrad flammte im Rücklicht die Nachmittagssonne auf. Wir wollten an den See. Es war der erste Tag im Sommer, an dem der Angler wieder am Ufer war, der seine Armbanduhr an’s Fußgelenk bindet, damit er im Liegen bequem die Zeit ablesen kann – der erste Tag an dem die durchsichtige Weite, durch die man so läuft sich aufknöpfte, wie die Menschen, die ihre Jacken aufknöpften. Wir setzten uns ein Stück weiter neben den Angler und schauten auf die Stadt, und S. pfiff ein Hip-Hop-Stückchen, in jenem schaurigen Timbre, mit dem Hausfrauen beim Bügeln Operettenmelodien pfeifen......

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